L’HOMME à la CAMÉRA

  • 14. March – 15. March 2009
  • TU Wien, Prechtl-Saal

Österreichische Erstaufführung der von Pierre Henry autorisierten integralen Fassung
Das „Kinoauge“ trifft auf das „Ohrenkino“ Der epochale Film von Dziga Vertov (1929) mit der kongenialen Musik von Pierre Henry (1993)

  • Idee und Klangregie: Thomas Gorbach 
  • Akustische Inszenierung: Günther Rabl 
  • Lichttechnik: Michael Strohmann 
  • Kuenstlerische Beratung: Christoff Wiesinger

SA, 14. März 2009, 20h
SO, 15. März 2009, 20h und 22h TU Wien, Prechtl-Saal

Dziga Vertov (mit bürgerlichem Namen Denis Arkadjewitsch Kaufman) zählt zusammen mit Sergej Eisenstein zu den wichtigsten Vertretern der russischen Filmkunst der Zwanzigerjahre. Vertov gründete die Gruppe „Kino-Glaz“ (Kinoauge) und postulierte, dass „jegliche Form der Inszenierung zu eliminieren sei“. Ihm widerstrebte der Einfluss des Theaters und des amerikanischen Kinos, wie es sich in Hollywood gerade rasant entwickelte. In „Tschelowek s kinoapparatom“ (Der Mann mit der Kamera), Vertov’s erster grossen Arbeit, mit der er schlagartig international berühmt wurde, fliessen eine Vielzahl von thematischen Ebenen ineinander: der Blick des Kameramannes, die auf Leinwand gebannte Aussenwelt, der Blick auf die Reaktion der Zuschauer, das Sichten des auf Film gebannten Lebens und nicht zuletzt der zum Thema erhobene „Mann mit der Kamera“ selbst. Eine Montagephase beginnt in Moskau, setzt sich in Kiev fort und endet in Odessa. Vertov steigt in Schächte, klettert auf Gebäude, eilt vom Frisiersalon in die Fabrik, von der Bierstube in den Club. Vor uns entsteht eine befreite Kunst, die nicht an die Gesetze der Handlungs-, Zeit und Raumstruktur gebunden ist. Im Zentrum von Vertov’s Arbeit steht die Montage. Er schafft Vorwegnahmen und Rückblenden in genauer Kenntnis der Dauer jeder einzelnen Szene. Diese fügt er zu präzisen, rhythmischen Skalen zusammen. Unvorhergesehene Bewegungen und Rhythmen entstehen – Geschwindigkeiten variieren und schaffen einen visuellen Sog, der dem Film eine enorme Vitalität verleiht. Vor fast genau 80 Jahren führte Vertov diesen Film erstmals in Europa auf. Im Vorspann dazu verkündet er: „Diese experimentelle Arbeit hat das Ziel, eine wahrhaft internationale, absolute Filmsprache zu erschaffen, welche auf der totalen Abgrenzung von der Sprache des Theaters und der Literatur basiert“. Film als „Wahrheitsmaschine“ – als analytisches Werkzeug zum Verständnis der menschlichen Realität. Filmkunst ist „Spiegel des Lebens“ mit der Möglichkeit durch naturwissenschaftliche Denk- und Gestaltungsprinzipien „das Leben selbst neu zu organisieren“. Damit legt Vertov die Grundlagen des Dokumentarfilms, die auch heute noch Gültigkeit haben. Aber Vertov war auch Musiker. Dass das Musikalische auch seinen Stummfilmen immanent ist, wurde immer wieder hervorgehoben. In seinem ersten monumentalen Tonfilm „Simfonija Dombassa“ (1930) montiert er Geräusche mit der selben Virtuosität, mit der er Filmsequenzen zu einer „Geschichte“ montiert. Er „untermalt“ nicht, er verhebt Bild-und Tonaufnahmen, sodass beide zusammen in ihrer Eigenständigkeit eine neue Dimension eröffnen. Anlässlich einer Aufführung des Filmes 1931 in London erhielt er folgendes Billett: „Never had I known that these mechanical sounds could be arranged to seem so beautiful. I regard it as one of the most exhilarating symphonies I have heard. (…) Congratulations“, Charles Chaplin.

Das genau ist der Punkt an dem Henry ansetzt. Er empfindet eine tiefe Verwandtschaft mit Vertov in den Arbeitsmethoden. Niemals seine ureigene Klangsprache verlassend, schafft er eigene Bögen, die zum Visuellen einen Kontrapunkt bilden. Die eigentliche Seelenverwandtschaft der beiden Kunstrichtungen liegt in der Montage, den sich daraus ergebenden Qualitäten und der Erkenntnis über die Welt auf diesem Weg. Zutiefst in der musique concrète verwurzelt, schöpft Pierre Henry aus seinem akustischen Fundus – einem selbst aufgebauten Klangarchiv aus Tausenden von Einzelaufnahmen, wohlgeordnet im Luftschutzkeller seines Hauses im 12. Arrondissement in Paris. Der 82-jährige erschafft seine expressionistischen Klanglandschaften auch heute noch ausschliesslich mit analogen Mitteln, ohne Computer. Henry schreibt über diese Arbeit: „Es ist offensichtlich, dass Dziga Vertov die Wahrheit in der unbearbeiteten Aufnahme gesucht hat. Er wollte das Leben in seiner Unmittelbarkeit erfassen. Dasselbe gilt für mich. Ich verwende die Klänge spontan und auch meine Bearbeitungen ändern daran nichts. Ich habe die hörbaren Phänomene oft in ihrer Ursprünglichkeit eingesetzt. Meine Musik zeigt sich gegenständlich. Ich gehe sehend an das Universum der Klänge heran. Das Ohr spielt die Rolle des Auges. Manchmal ein surreales Auge, das wie ein Fühler gebraucht werden kann, wie ein Analysator. Eine andere Realität des Klanges“. Die überwältigende Wirkung des Werkes entsteht durch die Synchronität der beiden Ebenen Film und Musik. Es ist nicht verwunderlich, dass Pierre Henry nur eine Gesamtaufführung des Werkes in der von ihm autorisierten Fassung zulässt.

Die Aufführung am 14./15.März an der Technischen Universität Wien trägt diesem einzigartigen Zusammenwirken Rechnung. Bild und Ton treffen sich im realen Raum. Ganz in der Tradition der Inszenierung von elektroakustischer Musik wird Henry’s Komposition über viele räumlich verteilte Lautsprecher gespielt, in deren Mitte die Projektion von Vertov’s Film thront. Damit schliesst sich der Kreis zu den Anfängen in den Zwanziger-und Dreissigerjahren, die weiterzuverfolgen Vertov – im wahrsten Sinne des Wortes – nicht mehr „vergönnt“ war. Anlässlich der bereits erwähnten Aufführung 1931 in London notiert er in sein Tagebuch: „Interessante Lautstärkeregulierung: mit Knöpfen vom Saal aus.“

Einige Bemerkungen zur hier aufgeführten Version des Films:
Vertovs Film ist ursprünglich in einem damals üblichen quadratischen Format gearbeitet. Davon wurden verschiedene Kopien auf dem späteren Tonfilmformat 4:3 gemacht (abzüglich einer nicht verwendeten Tonspur). So eine Kopie hatte Henry für seine Arbeit zur Verfügung. Unser anfänglicher Plan war, den „originalen“ Film von Zelluloid zu spielen und dazu Henrys Musik von Tonband, oder doch von einer hochauflösenden Digitalkopie manuell zu synchronisieren. Schliesslich gibt es im Filmmuseum Wien eine der grössten Vertov-Sammlungen und seitens des Filmmuseums sowie einiger grosser Kinos zeigte man durchaus Interesse und Kooperationsbereitschaft. Es stellte sich aber heraus, dass die Kopien sich vom Original nicht nur im Format und in der Länge unterscheiden, sondern auch in zahlreichen Details. Vertov, ein rastloser Arbeiter, hatte die Angewohnheit, auch an dem fertigen Film immer wieder Veraenderungen vorzunehmen, sodass es mehrere Versionen davon gibt. Von einer „Originalfassung“ im eigentliche Sinn kann man kaum sprechen. Henry hat seine Musik zu der ihm verfügbaren Fassung des Films exakt synchronisiert – auch dort, wo die Ebenen rhythmisch gegenläufig oder unabhängig sind. Und er hat seine Inspiration aus dem Film im Format dieser Kopie geschöpft. Das Werk, als Ganzes gesehen, kann daher gar nicht anders als in dieser Fassung aufgeführt werden.
(c) 2009 by Thomas Gorbach & Günther Rabl

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